- Perspektive
Gut Ding will Weile haben: Erkenntnisse zur Waldgesundheit aus Langzeitbeobachtungen
26.02.2025
Essay
Abstract
Der Zustand der Baumkrone ist ein wichtiger Indikator für die Vitalität eines Baumes. In Schweizer Wäldern wird der Kronenzustand seit 1985 im Rahmen der Sanasilva-Inventuren und seit 1994 als Teil des Forschungsprogramms «Langfristige Waldökosystem-Forschung» erhoben. In dieser Periode hat die Vitalität des Waldes deutlich abgenommen. Starke und grossflächige Verschlechterungen zeigten sich insbesondere nach Trockensommern. Der Zustand der Baumkronen ist auch ein Indikator für die Absterbewahrscheinlichkeit eines Baumes in den Folgejahren. Hauptursache für den Vitalitätsverlust des Waldes ist der erhöhte Trockenstress, der sich besonders auf Wälder in tieferen Lagen und trockenen Regionen der Schweiz auswirkt. Ein Extrembeispiel dafür ist die Entwicklung der Waldföhre (Pinus sylvestris L.) im Wallis. Regional starb dort in mehreren Wellen ein grosser Teil der Waldföhren ab. Über die Jahre haben sich die Erkenntnisse zu Ursachen und Prozessen immer klarer abgezeichnet. Die immer längeren und wertvolleren Zeitreihen einer Vielzahl beobachteter Parameter erlauben es uns, auch einzelne Ereignisse und Entwicklungen in einen grösseren Kontext zu stellen und zu interpretieren. Kontinuierliche Langzeitbeobachtungen sind deshalb unersetzlich, um Veränderungen im Wald früh zu erkennen und zu verstehen und daraus entsprechende Empfehlungen an die Politik und Praxis abzuleiten.
Keywords: forest monitoring, tree crown defoliation, mortality, drought stress, climate change, Scots pine
Schweiz Z Forstwesen 176 (2): 72–76. https://doi.org/10.3188/szf.2025.0072
* Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf, E-Mail stefan.hunziker@wsl.ch
Der Kronenzustand des Schweizer Waldes wird jeden Sommer auf einem repräsentativen 16-x-16-km-Stichprobennetz systematisch beobachtet. Grundsätzlich werden immer dieselben Flächen und Einzelbäume untersucht, wobei es auch fortlaufend dynamische Veränderungen des Bestandes (Absterben und Nachwachsen von Bäumen, Holznutzung usw.) gibt. Erfahrene und regelmässig trainierte Fachleute erheben dabei die Kronenverlichtung, d.h. den Anteil an fehlender Nadel- oder Blattbiomasse im Vergleich zu einem vollständig gesunden Baum. Dies geschieht in 5-Prozent-Schritten von 0% (maximale Benadelung/Belaubung) bis 100% (vollständiger Verlust von lebender Nadel- und Blattbiomasse). Die Kronenverlichtung ist einer der wichtigsten Indikatoren für die Vitalität eines Baumes. Zusätzlich werden zu jedem Einzelbaum verschiedene weitere Parameter (soziale Stellung im Bestand, Schädlingsbefall usw.) festgehalten. In diesem Kapitel zeigen und interpretieren wir die Entwicklung des Kronenzustands seit 1990.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die durchschnittliche Kronenverlichtung (Indikator für den Zustand des Waldbestandes zum Beobachtungszeitpunkt) über die gesamte Schweiz zugenommen (Abbildung 1). Trotz der ausgeprägten Jahressschwankungen folgt diese Entwicklung über mehrere Jahrzehnte einem signifikanten Trend. Auf den untersuchten Waldflächen zeigten die Kronen der Nadelbäume im Jahr 2023 eine um 2.4% höhere Kronenverlichtung als im Jahr 1990. Bei den Laubbäumen betrug die Zunahme 7.8%. Dies geschah trotz der natürlichen und forstlichen Anpassungen der Bestandstruktur.
Betrachten wir die Veränderungen der Verlichtung individueller Baumkronen (Indikator für die zeitliche Entwicklung der Vitalität individueller Bäume), so lag diese bei den Nadelbäumen durchschnittlich bei +0.5% pro Jahr, jene der Laubbäume bei +1.2%. Bei den Laubbäumen hat sich die jährliche Zunahme der Kronenverlichtung seit 1990 verstärkt; dies vor allem wegen der kontinuierlichen Zunahme der Verlichtung zwischen 2009 und 2015. Diese Entwicklung ging mit einer erhöhten Mortalitätsrate einher.
Beim Vergleich von Nadel- und Laubbäumen ist zu beachten, dass ein Grossteil der Nadelbäume in höheren, jener der Laubbäume aber in deutlich tieferen Lagen vorkommt. Bei der Veränderung der Kronenverlichtung gibt es eine klare Höhenabhängigkeit: In tieferen Lagen ist die jährliche Zunahme der Verlichtung oft mehr als doppelt so gross als in hohen Lagen. In sehr hohen Lagen ab etwa 1500 m ü.M., wo etwa ein Viertel der beobachteten Bäume steht, war die Zunahme der Kronenverlichtung mit +0.2% pro Jahr besonders tief. Die beschriebenen Entwicklungen bei den Laubbäumen kommen deshalb auch oft in etwas abgeschwächter Form bei den Nadelbäumen in tiefen Lagen vor.
Verschiedene Hinweise deuten darauf hin, dass der sich verschlechternde Zustand der Baumkronen hauptsächlich eine Folge des zunehmenden Trockenstresses ist. Seit den 1980er-Jahren hat sich die Lufttemperatur stark erhöht. Dies führte besonders in den tieferen Lagen zu einer Zunahme der atmosphärischen Trockenheit (Erhöhung des Dampfdruckdefizits), die sich besonders in den trockensten Regionen der Schweiz wie dem Wallis oder dem Südtessin auf die Vitalität der Wälder auswirkte. Die stärksten jährlichen Zunahmen der Kronenverlichtung folgten auf Trockenjahre, insbesondere in Regionen, die von einem ausgeprägtem sommerlichen Niederschlagsdefizit betroffen waren. Eine Ausnahme bildet hier der Sturm Lothar vom Dezember 1999, der im Jahr 2000 bei den Nadelbäumen die stärkste bisher beobachtete Zunahme der Kronenverlichtung verursachte.
Kronenverlichtung als Frühwarnsignal für Mortalität
Angesichts der zunehmenden Beobachtungen von erhöhter Baumsterblichkeit in der Schweiz und vielen anderen Regionen weltweit stellt sich die Frage, ob und wie die Kronenverlichtung als Frühwarnsignal für Mortalität genutzt werden kann. Um diese Frage zu beantworten, muss der zeitliche Verlauf der Kronenverlichtung individueller Bäume bekannt und deren Verbleib oder Absterben eindeutig feststellbar sein. Dafür werden umfangreiche Zusatzinformationen benötigt. Zum Beispiel haben infolge eines Orkans umgestürzte Bäume mit gesunder Baumkrone kaum etwas mit gesundheitsbedingter Mortalität zu tun; ein umgestürzter Baum mit Pilzbefall und stark verlichteter Krone hingegen schon. Auch die Waldbewirtschaftung hat einen grossen Einfluss und kann Analysen zur Mortalitätsrate verzerren, da beispielsweise Nadelbäume mit stark verlichteter Baumkrone viel häufiger gefällt werden als solche mit geringer Kronenverlichtung. Nur durch die Berücksichtigung solcher Zusatzinformationen kann Baummortalität so definiert werden, dass sie sich zuverlässig mit der Baumgesundheit in Verbindung bringen lässt.
Die Langzeitbeobachtungen des Forschungsprogramms «Langfristige Waldökosystem-Forschung» (LWF) zeigen, dass eine Kronenverlichtung bis etwa 30% kaum einen Einfluss auf die Mortalität eines Baumes hat (Abbildung 2). Mit zunehmender Kronenverlichtung steigt die Absterbewahrscheinlichkeit jedoch immer stärker an, insbesondere bei etwa 75 bis 80%. Ab 80 bis 85% Kronenverlichtung scheint ein Grenzwert erreicht, ab dem sich die allermeisten Bäume (≥80%) nicht mehr erholen können und innerhalb einiger Jahre absterben. Dies trifft sowohl auf Nadel- als auch auf Laubbäume zu, wobei Laubbäume mit so stark verlichteten Kronen oft noch etwas länger überleben. Neueste Studien deuten darauf hin, dass bei einer Kronenverlichtung ab 80 bis 85% aufgrund von Kohlenstoffmangel überlebenswichtige Funktionen der Feinwurzeln nicht mehr aufrechterhalten werden können (Hunziker et al 2024). Bei Laubbäumen deutet die Kronenverlichtung bereits in tieferen Bereichen auf eine erhöhte Absterbewahrscheinlichkeit hin als bei den Nadelbäumen und ist somit bei Ersteren ein aussagekräftigeres Frühwarnsignal für eine erhöhte Mortalitätswahrscheinlichkeit.
Sterbende Waldföhren im Wallis: je länger die Beobachtungen, desto klarer die Ursachen
Seit den 1990er-Jahren starb im Wallis in mehreren Wellen eine grosse Anzahl an Waldföhren ab. Fluoremissionen aus Industrieanlagen, die bei vorherigen Ereignissen als Ursache für die reduzierte Waldföhrenvitalität identifiziert worden sind, konnten bereits früh als mögliche Treiber ausgeschlossen werden. Rigling & Cherubini (1999) haben bereits nach der zweiten Absterbewelle der 1990er-Jahre Trockenheit als mögliche Ursache für die hohen Mortalitätsraten der Waldföhre diskutiert. Die Autoren fassten deren Rolle folgendermassen zusammen: «Die Trockenheit ist sicher als Stressfaktor zu betrachten; sie kann aber nur in Zusammenhang mit anderen prädisponierenden Stressfaktoren wie z.B. Bestandeskonkurrenz oder Insekten- und Pilzbefall zu einem Problem für die Waldföhre werden.» Sie hielten fest, dass kaum einfache Antworten für des Absterben der Waldföhren zu erwarten seien.
Nach weiteren Absterbeereignissen von Waldföhren im Wallis und dank längeren Datenreihen und weiteren Studien wurde die entscheidende Rolle von Trockenstress immer deutlicher. Exemplarisch dafür ist der Titel einer von Rebetez & Dobbertin (2004) veröffentlichten Studie: «Der Klimawandel bedroht möglicherweise bereits die Kiefernbestände in den Schweizer Alpen».
Einige Jahre später haben Rigling et al (2018) gezeigt, dass die beobachteten Absterbewellen und plötzlichen Anstiege der mittleren Kronenverlichtung der Waldföhren immer auf Perioden mit besonders negativer Wasserbilanz folgten. In einer Studie von Hunziker et al (2022) konnte dies noch genauer aufgeschlüsselt werden.
Auf der LWF-Beobachtungsfläche Visp waren unterdurchschnittliche Niederschläge von Juli bis September des jeweiligen Vorjahres der ausschlaggebende Faktor für abrupte Verschlechterungen des Kronenzustandes und eine Zunahme der Mortalitätsrate bei der Waldföhre (Abbildung 3). In diesen Monaten sind die Wasserreserven im Boden nahezu aufgebraucht, während die Atmosphäre sehr trocken ist und weiter Wasser von der Erdoberfläche und der Vegetation aufnimmt. Die Niederschlagshäufigkeit und -intensität (Niederschlagsmenge pro Niederschlagsereignis) von Juli bis September erklärt rund 60% der beobachteten jährlichen Veränderung der Kronenverlichtung der Waldföhren. Dass dieser simple Ansatz (multiple lineare Regression) eine so hohe Erklärungskraft hat, verdeutlicht die treibende Rolle der Boden- und atmosphärischen Trockenheit auf die hohen Absterberaten der Waldföhren. Weitere Stressfaktoren wie starker Insektenbefall um 1999 und Spätfrost im April 2017 scheinen zwar das Ausmass eines Absterbeereignisses zu erhöhen, waren aber von 1996 bis 2018 von untergeordneter Bedeutung. Das teilweise verzögerte Auftreten von Mortalität nach einer Verlichtungszunahme lässt sich durch den hohen Anteil an sehr stark verlichteten Waldföhren im Bestand erklären: Auf der untersuchten Fläche starben die meisten Waldföhren mit einer Kronenverlichtung ≥75% innerhalb von zwei Jahren ab, auch wenn sie in den Folgejahren keinem aussergewöhnlich starken Trockenstress ausgesetzt waren. Der Teil des Wallis, der hauptsächlich von Absterbeereignissen betroffen war, stimmt räumlich gut mit dem Gebiet überein, in dem alle paar Jahre von Juli bis September ganz besonders wenig Niederschlag fällt. Interessanterweise haben sich in diesen Monaten die Intensität und die Häufigkeit der Niederschläge seit den 1980er-Jahren kaum verändert. Hingegen ist die atmosphärische Trockenheit im Frühling und im Sommer stark angestiegen, was zu einer früheren und stärkeren sommerlichen Austrocknung der Böden führte.
Schlussfolgerungen
Die Langzeitbeobachtungen des LWF bieten eine unersetzliche Datengrundlage für die statistische Überwachung des Gesundheitszustandes des Schweizer Waldes und ermöglichen die Untersuchung der zugrunde liegenden Prozesse und Wechselwirkungen. Die Vitalität eines Baumes wird von einem komplexen Zusammenspiel diverser und oft interagierenden Faktoren beeinflusst, das sich über die Zeit verändern kann. Zudem sind auch die Vorgeschichte und die Resilienz eines Baumes entscheidend für die Auswirkungen eines auftretenden Stressfaktors. Daher werden Langzeitbeobachtungen umso aussagekräftiger und wertvoller, je länger sie fortgesetzt werden. Ohne systematische und kontinuierliche Langzeitbeobachtungen wäre beispielsweise die Ursache-Wirkung-Analyse der abnehmenden Waldföhrenvitalität im Wallis nicht möglich gewesen.
Andere Methoden der Waldbeobachtung ergänzen unsere umfangreichen Datenreihen und erlauben uns so, das Waldökosystem ganzheitlich zu untersuchen, um ein umfassendes Verständnis der Prozesse und Wechselwirkungen mit biotischen und abiotischen Faktoren zu erlangen. Zum Beispiel kann mithilfe von Bohrkernen aus Baumstämmen das Wachstum, das neben dem Kronenzustand ein weiterer wichtiger Indikator für die Baumgesundheit ist, bis weit in die Vergangenheit zurück rekonstruiert werden. Die Fernerkundung (Erdbeobachtung aus dem All mit Satelliten oder aus geringerer Distanz, z.B. mit Drohnen) hingegen bietet die Möglichkeit, grosse Waldflächen in kurzer Zeit zu erfassen. Allerdings sind solche Daten in hoher räumlicher Auflösung noch nicht sehr lange und oft nicht kontinuierlich verfügbar. Auch wenn in diesem Bereich eine rasche Entwicklung zu immer besserer räumlicher und zeitlicher Auflösung zu beobachten ist, bleibt die zuverlässige Identifizierung und kontinuierliche Beobachtung eines Einzelbaumes mit Methoden der Fernerkundung wohl noch länger eine Herausforderung. Die Frage, ob und wann ein Baum abgestorben, umgefallen oder forstlich genutzt wurde, dürfte insbesondere für kleinere Bäume, die nicht bis ins Kronendach reichen, mit fernerkundlichen Methoden kaum zu beantworten sein. Zudem sind zur Entwicklung von fernerkundlichen Methoden immer Beobachtungen vor Ort zur Validierung und Verbesserung der Ansätze nötig.
Grosses Potenzial liegt in der Kombination aller verfügbarerer Ansätze. Damit kann die Waldgesundheit bis weit in die Zeit vor der systematischen Waldbeobachtung rekonstruiert werden und können lokale Beobachtungen zuverlässiger auf grosse Gebiete übertragen werden. Die kontinuierliche Waldbeobachtung vor Ort bleibt dabei aber ein unverzichtbares Standbein für die aktuelle und zukünftige umfassende Erforschung der Auswirkungen von Umweltveränderungen.
Eingereicht: 12. August 2024, akzeptiert (mit Review): 11. Oktober 2024
Literatur
Below average midsummer to early autumn precipitation evolved into the main driver of sudden Scots pine vitality decline in the Swiss Rhône valley. Frontiers For Glob Change 5: 874100.https://doi.org/10.3389/ffgc.2022.874100
The metabolic fingerprint of Scots pine—root and needle metabolites show different patterns in dying trees. Tree Physiology, 44 (4): tpae036.https://doi.org/10.1093/treephys/tpae036
Climate change may already threaten Scots pine stands in the Swiss Alps. Theor Appl Climatol 79: 1–9.https://doi.org/10.1007/s00704-004-0058-3
Wieso sterben die Waldföhren im «Telwald» bei Visp? Eine Zusammenfassung bisheriger Studien und eine dendroökologische Untersuchung. Schweiz Z Forstwes 150: 113–131.
20 Jahre Waldföhrensterben im Wallis: Rückblick und aktuelle Resultate. Schweiz Z Forstwes 169: 242–250.https://doi.org/10.3188/szf.2018.0242