- Notizen
Das Potenzial der Edelkastanie in Wäldern der Schweizer Alpennordseite
16.12.2024
Notiz
Die Edelkastanie ist eine Baumart, die heute in den Wäldern der Alpennordseite häufig gepflanzt wird. In der vorliegenden Publikation wird das physiologische und waldbauliche Potenzial der Baumart für die forstliche Praxis aufgezeigt. Dazu werden die Resultate aus der Masterarbeit «Wachstum der Edelkastanien auf Standorten der Schweizer Alpennordseite» sowie jene aus der ergänzenden Studie «Standortseignung Edelkastanie» präsentiert. Basierend darauf werden waldbauliche und standörtliche Folgerungen und Empfehlungen abgeleitet.
* Universitätstrasse 16, CH-8092 Zürich, E-Mail luis.muheim@usys.ethz.ch
Der Klimawandel stellt die Waldbranche vor grosse Herausforderungen und Unsicherheiten. Man kann davon ausgehen, dass es in einem wärmeren und trockeneren Klima zu Veränderungen der Baumartenzusammensetzung kommt und sich die Dynamik in unseren Wäldern verändert. Insbesondere stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie die Waldleistungen auch in Zukunft zuverlässig erbracht werden können. Deshalb werden verschiedene Anpassungsstrategien und -massnahmen diskutiert und teilweise bereits waldbaulich umgesetzt. Dazu gehört die Erhöhung der Baumartenvielfalt (Pluess et al 2016), wodurch das Ausfallrisiko auf mehrere Baumarten verteilt wird. Für die Diversifizierung der Wälder stehen viele bisher wenig beachtete einheimische Baumarten zur Verfügung. Um diese in der Praxis einzusetzen, sind Kenntnisse zu Standortseignung und Wuchsverhalten notwendig. Bisherige Empfehlungen basieren vor allem auf einzelnen Erfahrungen, und es gibt wenig wissenschaftliche Daten.
Eine Baumart, die in Wäldern der Alpennordseite mit dem Gedanken der Anpassung an den Klimawandel mittlerweile oft gepflanzt und gefördert wird, ist die Edelkastanie (Castanea sativa). Sie wurde schon im Mittelalter auf der Schweizer Alpennordseite häufig angepflanzt, allerdings wegen ihrer Früchte in Hainen und nicht zur Holzproduktion im Wald. Aktuelle Verbreitungsdaten zeigen, dass Edelkastanien auf der Alpennordseite bereits an einigen Standorten vorkommen (Abbildung 1). In Wäldern der kollinen und submontanen Höhenstufe, die sich gemäss Modellierungen im Mittelland stark ausbreiten dürften, könnte die Edelkastanie als Waldbaumart künftig eine bedeutende Rolle einnehmen. Aus dem Tessin kommen derzeit vermehrt Meldungen zu grossflächigem Absterben der Edelkastanie, vermutlich verursacht durch Krankheiten, Trockenheit und Bewirtschaftungsaufgabe (Conedera 2024). Ein überlegter und sorgfältiger Einsatz von Edelkastanien auf der Alpennordseite ist also angezeigt. So sind die jungen, nacheiszeitlichen kalkreichen Böden, die im Mittelland häufig anzutreffen sind, für die grundsätzlich kalkmeidende Baumart problematisch. Ein Grossteil der Standorte im Mittelland dürfte also zwar klimatisch für diese Baumart geeignet sein, jedoch aufgrund des Bodens problematisch bleiben.
Die Edelkastanie hat ein interessantes dauerhaftes Holz, das im Aussenbereich und für Konstruktionszwecke im Innenbereich eingesetzt werden kann. Dabei ist zu beachten, dass die Edelkastanie zur Ringschäligkeit (Aufreissen entlang der Jahrringgrenzen) tendiert, die zu einer starken Holzentwertung führt. Insbesondere bei Wachstumsschwankungen und mit zunehmendem Alter ist das Risiko der Ringschäligkeit erhöht. Dies sollte bei der Produktion von Stammholz unbedingt in die waldbaulichen Überlegungen miteinbezogen werden.
Studien zu Wachstum und Standort
Um das waldbauliche Potenzial dieser Baumart auf der Alpennordseite abzuschätzen, wurden in der Masterarbeit von Muheim (2020) das Wachstum der Edelkastanie und dessen Einflussfaktoren mittels Jahrringanalysen auf verschiedenen Waldstandorten untersucht. Es konnten so Dickenwachstumskurven dargestellt und relevante Einflussfaktoren bestimmt werden. Folgende Fragestellungen standen im Fokus:
- Wie unterscheidet sich das Dicken- und Höhenwachstum von Edelkastanien auf verschiedenen Waldstandorten?
- Welche biotischen und abiotischen Standortfaktoren beeinflussen das Wachstum der Edelkastanie?
Dazu wurden in Mischwäldern der Schweizer Alpennordseite in 14 ausgewählten Beständen in 4 Regionen (Mittelland West und Ost sowie Voralpen West und Ost), das Wachstum von 5 bis 7 Edelkastanien untersucht (Tabelle 1). Alle 79 Bäume wurden angebohrt, wodurch die Jahrringbreiten, der laufende Durchmesserzuwachs sowie das Alter bestimmt werden konnten. Mit den Jahrringdaten konnte das Wachstum der untersuchten Bäume analysiert und Wachstumskurven dargestellt werden (siehe Kapitel «Wachstum der Edelkastanie»).
In jedem Bestand wurden zudem abiotische (Boden, Klima, Topografie, Geologie, Pflanzensoziologie) und biotische (Vorrat, Mischung, Oberhöhe, Bestandesstruktur) Standortfaktoren erhoben. Die verschiedenen Standortfaktoren wurden dem Zuwachs gegenübergestellt und ihre Effekte mit einem linearen gemischten Modell beurteilt. Mit Klima-Wachstums-Beziehungen wurde der Effekt der monatlichen klimatischen Verhältnisse auf die Jahrringbreite ermittelt (siehe Kapitel «Einflussfaktoren auf das Wachstum»).
In einem Folgeprojekt von Muheim & Rudow (2021) wurde das Gedeihen der Edelkastanie auf jungen, nacheiszeitlichen nicht kalkfreien Böden untersucht, um die standörtliche Nische der Edelkastanie im Mittelland besser zu definieren bzw. im basischen Bereich abzugrenzen. Dabei standen folgende Fragestellungen im Fokus:
- Gibt es vitale Vorkommen der Edelkastanie auf nicht stark entkarbonisierten Böden über Würmmoräne?
- Liegen die pH-Werte der Vorkommen über Würmmoräne im allgemeinen Standortbereich für die Edelkastanie?
- Gibt es andere wichtige Bodenfaktoren, z.B. Kalkgrenzentiefe, für die Bestimmung der Standorteignung?
Dazu wurden 24 vitale Edelkastanien auf Böden über Würmmoräne oder solche mit anderer Geologie, aber mit Böden im schwach sauren bis basischen Bereich ausgewählt (Abbildung 2). Im Sinne eines Artverbreitungsmodells mit Presence-Daten wurden die Standorte der vitalen Edelkastanienvorkommen als geeignete Edelkastanienstandorte betrachtet. Es wurden verschiedene bodenchemische und -physikalische Parameter direkt im Feld bestimmt.
Wachstum der Edelkastanie
Über alle Untersuchungsflächen in der Masterarbeit von Muheim (2020) konnte eindrücklich das starke Jugendwachstum dieser Baumart gezeigt werden. Der BHD-Zuwachs in der Jugendphase liegt zwischen 1 und 2 cm. Die Kulmination des Zuwachses erfolgt im Alter zwischen 15 und 50 Jahren. Interessant ist auch, dass die Wachstumskurven der im selben Bestand betrachteten vitalen Edelkastanien im Alter von 20 bis 30 Jahren oder im BHD-Bereich von 15 bis 30 cm verschiedene Wachstumsverläufe aufwiesen. Dies gibt Hinweise, ab wann die Konkurrenzverhältnisse das Wachstum massgeblich beeinflussen und wann waldbauliche Eingriffe angezeigt sind. Das Erreichen von waldbaulichen Zieldurchmessern von 40 cm in 40 Jahren bzw. 60 cm in 60 Jahren konnte mit den Jahrringkurven beurteilt werden (Abbildung 3). Grundsätzlich zeigen die Ergebnisse, dass auf allen Untersuchungsflächen solche Zielwerte erreicht werden können. Die Analyse des Höhenwachstums zeigte, dass die Edelkastanie auch diesbezüglich ein starkes Jugendwachstum aufweist und gegenüber anderen Baumarten vorwüchsig ist.
Einflussfaktoren auf das Wachstum
Mit dem linearen gemischten Modell wurden in der Masterarbeit von Muheim (2020) verschiedene Einflussfaktoren auf das Wachstum quantifiziert. Tiefgründige, leicht saure, sandig-lehmige Böden zeigen eine positive Wirkung auf das Wachstum. Dies bestätigt die bisherigen Erkenntnisse. Der Einfluss der jahreszeitlichen Klimavariation (monatlicher Niederschlag und Temperatur) zeigte insbesondere an den trockenen Standorten, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen Juni-Niederschlag und der Jahrringbreite gibt. An weniger trockenen Standorten konnten keine Zusammenhänge gefunden werden. Diese Sensitivität der Jahrringbreite und damit verbundene Wachstumsschwankungen deuten darauf hin, dass für die Holzproduktion mit Edelkastanie das Risiko der Ringschäligkeit an trockenen Standorten erhöht sein dürfte.
Ökologische Nische und Produktionsstandort
Die Edelkastanie ist eine wärmetolerante Baumart, jedoch nicht ausgeprägt trockenheitstolerant (Rudow 2024). Sie hat Probleme mit kalkhaltigen Böden und erträgt Staunässe schlecht. Ihre realisierte Nische liegt somit im frischen bis trockenen und schwach sauren bis sauren Bereich (Abbildung 4, links).
Die Edelkastanie kann jedoch auch ausserhalb dieses Bereichs gedeihen, z.B. an stark wüchsigen mittleren Standorten mit entsprechender waldbaulicher Förderung. So gibt es klare Unterschiede zwischen dem optimalen Produktionsstandort für Stammholz und der ökologischen Nische (Abbildung 4, rechts). Die trockenen Bereiche der Nische dürften für die Produktion wegfallen, da dort das Risiko der Ringschäligkeit erhöht ist (siehe auch Kapitel «Einflussfaktoren auf das Wachstum»). Im basischen und feuchten Bereich ist die Edelkastanie nicht einsetzbar. Wo diese Grenze liegt, kann anhand der Waldgesellschaften und der Geologie eingegrenzt werden. Da es im Bereich von mittleren Standorten je nach geologischem Untergrund bereits einen erheblichen Kalkanteil haben kann, sind weitere Hinweise für den optimalen Produktionsstandort der Edelkastanie nötig. In der Studie von Muheim & Rudow (2021) konnte gezeigt werden, dass vitale Bäume auf eher kalkreichen Standorten relativ tiefe Kalkgrenzen aufweisen (Abbildung 5). Die ältesten Bäume hatten alle eine Kalkgrenze tiefer als 70 cm. Ausserdem lag der pH-Wert jeweils bei 5 bis 6, was die bisherige Faustregel bestätigt.
Waldbauliche und standörtliche Empfehlungen
Die Resultate bestätigen bestehende Empfehlungen zum Umgang mit der Edelkastanie und vermögen diese zudem weiter zu schärfen und zu ergänzen. Folgende Überlegungen sollten bei der Stammholzproduktion mit der Edelkastanie auf der Alpennordseite einbezogen werden:
- Die Edelkastanie ist anfällig auf Ringschäligkeit. Das Alter und Wachstumsschwankungen erhöhen das Risiko. Deshalb werden kurze Umtriebszeiten und regelmässige Eingriffe zur Kronenpflege empfohlen.
- Das starke Jugendwachstum sollte für die Holzproduktion ausgenutzt werden. So können an geeigneten Standorten Sortimente von BHD 40 cm in 40 Jahren erreicht werden. Darüber hinaus sind Wertholzsortimente von BHD 60 cm in 60 Jahren möglich, wenn regelmässige Eingriffe analog zur Wertholzproduktion mit Kirschbaum oder Walnuss erfolgen.
- Aufgrund des starken Jugendwachstums und der frühen Wachstumskulmination ist die Erziehung der Edelkastanie mit Nebenbestand und allenfalls Erziehungsschnitt wichtig. Die Baumartenmischung mit Edelkastanien ist anspruchsvoll, auf konkurrenzstarke Hauptbaumarten ist ganz zu verzichten.
- Die Produktionsstandorte liegen im Bereich der mittleren-frischen bis sauer-trockenen Standorte. Im trockenen Bereich nimmt das Risiko der Ringschäligkeit zu und somit die Eignung für die Holzproduktion ab.
- Der geologische Untergrund ist zu berücksichtigen. Geeignete Standorte im Mittelland sind vor allem auf stark verwitterten, alten Böden über Molasse, Rissmoräne und Deckenschotter. Kalkhaltige Böden sollten gemieden werden.
- Auf mittleren oder leicht basischen Böden, z.B. über Würmmoräne, sind Edelkastanien möglich. Aufgrund des kleinräumigen standörtlichen Mosaiks mit möglichem Vorhandensein von Kalk sind jedoch Bodenproben notwendig. Die Kalkgrenze sollte auf mindestens 70 cm liegen und der Tonanteil tief sein, um Staunässe zu vermeiden.
- Die Edelkastanie hat mit dem Kastanienrindenkrebs, der Tintenkrankheit und der Gallwespe mehrere ernst zu nehmende Pathogene. Um deren Ausbreitung zu verhindern, sollte nur einheimisches Pflanzenmaterial mit Pflanzenpass verwendet werden. Ausserdem sind befallene Bäume sachgemäss zu entfernen.
Schlussfolgerung
Die Edelkastanie stellt auf der Alpennordseite aufgrund des wärmer werdenden Klimas eine interessante Baumart zur Anpassung des Waldes an den Klimawandel dar. Es sind jedoch einige standörtliche und waldbauliche Überlegungen notwendig, damit die Baumart erfolgreich eingesetzt werden kann. Hinsichtlich Klimawandel allein auf die Edelkastanie zu setzen, ist risikoreich und nicht zu empfehlen. Einerseits ist sie nicht ausgesprochen trockenheitstolerant, und andererseits gibt es einige Risiken aufgrund von Pathogenen. Die Edelkastanie sollte punktuell in kleinen Beständen gepflanzt werden. Wichtig sind dabei die Berücksichtigung geeigneter Standorte und die Einhaltung phytosanitärer Regeln.
Vielfältige Produkte und Waldleistungen der Edelkastanie
Die Stammholzproduktion mit Edelkastanien an starkwüchsigen Standorten im Hochwald ist bisher erst vereinzelt angewendet worden. Die traditionellen Nutzungen waren Fruchtproduktion (Hain, selva) sowie die Produktion von Stangenholz für Pfähle, z.B. für Lawinenverbauungen (Niederwald, palina). Die Edelkastanie kann zudem eine wertvolle Baumart für die Biodiversität sein. Als Archäophyt (eingeführt vor der Entdeckung Amerikas) ist sie bereits seit langer Zeit im europäischen Raum und in der Schweiz, auch auf der Alpennordseite. Es kann davon ausgegangen werden, dass entsprechende Insekten insbesondere von Habitatstrukturen bei alten Bäumen, aber auch von Blüten profitieren (Segatz 2018). Aufgrund ihres schnellen Jugendwachstums und starker Neigung zu Stockausschlag ist die Baumart auch im Steinschlagschutzwald interessant.
Die Edelkastanie als Stadtbaum
Edelkastanien dürften vermehrt auch im Siedlungsgebiet eine Anwendung finden. Die Baumart kann für die Begrünung und Schaffung von neuen Kühlinseln in Städten von Interesse sein. Aufgrund ihrer Früchte erfreut sich die Baumart grosser Beliebtheit in der Bevölkerung. Im Projekt «Stadtzürcher Maroni» wurde das Potenzial dieser Baumart als Stadtbaum ausgelotet, und es wurden an mehreren Standorten neue Bäume gepflanzt
Literatur
Per i boschi della Svizzera italiana è già domani. Schweiz Z Forstwes 175 (1): 50–52.
Das Wachstum der Edelkastanie auf Waldstandorten der Schweizer Alpennordseite. Master Thesis ETH Zürich. 60 p. doi.org/10.3929/ethz-b-000460730
Standortseignung Edelkastanie. Schlussbericht. Dendrologie und Vegetationskunde. Bericht ETH Zürich, Bern: Bundesamt für Umwelt BAFU. 17 p.
Wald im Klimawandel. Grundlagen für Adaptationsstrategien. Bern: Bundesamt für Umwelt, Birmensdorf: Eidg. Forschungsanstalt WSL. Bern: Haupt. 447 p.
Wertholzproduktion mit der Edelkastanie auf der Alpennordseite. Kursdokumentation. cpp/apw-Kurs 2B, Oktober 2006, 17 S. ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/usys/ites/forest-ecology-dam/documents/Dendrologie/SEBA/SEBACASTANEA_DIV_kurs_waldbau_2006.pdf
Dendrologie Artenportraits. Morphologische und ökologische Eigenschaften der Gehölzarten Mitteleuropas. Dendrologie und Vegetationskunde, ETH Zürich (ed). 197 p.fe.ethz.ch/forschung/dendrology-and-vegetation-science/dendro/grundlagen(Zugriff 22.8.2024)
Verbreitung Edelkastanie Schweizer Alpennordseite. Projektdokumentation. Sortenerhaltung Edelkastanie Alpennordseite (BLW, NAP 03-20), SEBA-Befragungsdaten 2007–2009.
Biodiversität und waldbauliche Behandlung von Edelkastanienwäldern. LWF Wissen 81. Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF). 11 p.