• Notizen

Schutzzäune belegen tiefgreifende Wildeinflüsse auf die Verjüngung der Kastanienwälder

Notiz

Eric Gehring1,*, Zeno Somaini2, Marco Conedera1

1 Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL, Cadenazzo (CH)
2 Berner Fachhochschule HAFL, Zollikofen (CH)

Analysen des Verjüngungserfolgs auf seit 20 Jahren von Wildschutzzäunen geschützten Flächen im Tessiner Kastaniengürtel belegen den tiefgreifendes Einfluss hoher Wilddichte auf die Waldverjüngungsdynamik. Totverbiss und stark veränderte Konkurrenzbedingungen im Jungwuchs reduzieren den Verjüngungserfolg der einheimischen Baumarten deutlich und begünstigen die vom Wild wenig angegangenen invasiven Neophyten. Unsere Resultate zeigen die Notwendigkeit, geeignete Monitoring-Ansätze zu entwickeln, um den langfristigen Verbisseinfluss auf die Waldverjüngung umfassend nachvollziehen zu können.

Schweiz Z Forstwesen 176 (3): 168–170. doi:https://doi.org/10.3188/szf.2025.0168

* A Ramél 12, CH-6593 Cadenazzo, E-Mail: eric.gehring@wsl.ch

Wildhuftiere wie Reh, Hirsch und Gämse ernähren sich unter anderem von Blättern, Trieben, Knospen und Rinden der Waldverjüngung. Sie bevorzugen bestimmte Baumarten und beeinflussen so die Konkurrenzverhältnisse in der Waldverjüngung (Abegg et al 2021; Kupferschmid & Frei 2025). Dies hat oft negative Effekte auf die Baumartenvielfalt und Nachhaltigkeit der Wälder. In vielen Gebieten der Schweiz ist die Eindämmung des Wildeinflusses in Anbetracht des Klimawandels dringend (Bebi et al 2023). Um eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren (Jagd, Forst, Naturschutz, Politik) zu erreichen, benötigen wir aussagekräftige Angaben zum Einfluss der Wildhuftiere auf die Waldverjüngung. Gemäss Kupferschmid et al (2019) können die langfristigen Auswirkungen des Wildverbisses nur objektiv eingeschätzt werden, wenn die Verjüngungsdichte, die Stärke des Endtriebverbisses, der Höhenzuwachs der (Haupt-)Baumarten und die verbissbedingte Mortalität bekannt sind. Obwohl auf nationaler Ebene und für viele Kantone Angaben zur Verbissintensität und/oder zum Wildeinfluss vorliegen (Kupferschmid & Frei 2025; Kupferschmid et al 2025), tun wir uns schwer damit, klare Schlussfolgerungen zum Umfang und zu den langfristigen Konsequenzen des Wildeinflusses auf die Waldverjüngung abzuleiten.

Hier zeigen wir am Beispiel der bald 20-jährigen Wildschutzzäune im Tessiner Kastaniengürtel, wie tiefgreifend der Einfluss einer erhöhten Wilddichte auf die Waldverjüngungsdynamik sein kann und wie wichtig es ist, den langfristigen Verbisseinfluss auf den Wald mit geeigneten Monitoring-Ansätzen umfassend belegen zu können.

Methode und Datenaufbereitung

Im Rahmen eines waldbaulichen Projektes in einem ehemaligen Kastanienniederwald wurden 2005 auf Eingriffsflächen an einem südexponierten Hang in der Gemeinde Solduno (TI) in Höhenlagen zwischen 300 und 450 m ü.M. Wildschutzzäune angelegt. Im Sommer 2024 wurden sechs dieser Zäune noch intakt vorgefunden. Die Zäune umschliessen Flächen von 80 bis 432 m2 (durchschnittlich 185 m2 ±135 m2) und weisen Hangneigungen von 29 bis 42° (durchschnittlich 36° ±5°) auf. Sie haben den Zugang für Wildhuftiere verhindert, nicht aber für andere Tierarten wie Hasen, Mäuse oder Eichhörnchen. Da im Gebiet ursprünglich keine nicht eingezäunten Referenzflächen eingerichtet wurden, haben wir auf der Grundlage von Swisstopo-Luftbildern im gleichen Zeitraum (d.h. 2000–2010) natürlich entstandene Störungsflächen (z.B. Baumwürfe und -zusammenbrüche, abgestorbene Kastanienbestände) nachträglich als Referenzflächen mit Wildeinfluss ausgewählt. Insgesamt waren es 15 Referenzflächen mit einer Ausdehnung von 89 bis 764 m2 (durchschnittlich 279 m2 ±178 m2) in 50 bis 200 m Entfernung zu den Wildschutzzäunen.

Die eingezäunten Flächen wurde vollständig erfasst, während in den ungezäunten Störungsflächen je eine kreisförmige Stichprobe mit einem Radius von 8 m (ca. 200 m2 entsprechend) aufgenommen wurde.

Neben den üblichen Standortsmerkmalen Höhenlage, Neigung und Exposition wurden für jede Fläche die Bodenbedeckung (Felsen, nackter Boden, Streu, Gras, Brombeeren, Farne) und die Kronenbedeckung des Bestandes aufgenommen. Bei der aus Samen entstandenen mehrjährigen Waldverjüngung bis 1.3 m Höhe hat man Art (oder Gattung), Alter, Höhe, Status (lebend, tot), Endtriebverbiss (ja, nein), Stärke des Verbisses (nicht, schwach, mittel oder stark verbissen) aufgenommen. Für über 1.3 m hohe Bäume, die nach dem Eingriff oder der Störung entstanden sind, wurden zusätzlich BHD, Entstehung (generativ, vegetativ), Kronentransparenz (inkl. Schadenursache) und Fege- und Entrindungsschäden registriert.

Resultate

Abbildung 1 zeigt den aktuellen Verbiss an bis zu 1.3 m hohen Bäumen der Hauptbaumarten in den nicht eingezäunten Flächen nach den Parametern, die üblicherweise in Wildeinflussaufnahmen verwendet werden. Die Grafik A zeigt die grossen Unterschiede der geschätzten Verbissstärke (Verbissintensitätsstufen) nach Hauptbaumarten, wobei die exotischen Arten Götterbaum und Robinie sowie die Birke tendenziell weniger geschädigt erscheinen (die Summe der Verbissintensitätsstufen 3 und 4 überschreitet praktisch nie 50%). Bei den einheimischen Arten Kirschbaum, Edelkastanie, Eiche, Esche und Winterlinde wurde hingegen die Verbissstärke deutlich höher eingeschätzt, mit Anteilen der Verbissintensitätsstufen 3 und 4 zwischen 53% und 80%.

Ein etwas negativeres Bild liefert die Grafik B, die den Prozentsatz des Endtriebverbisses darstellt. Bei den meisten einheimischen Arten liegt der Anteil der verschonten Endknospen im Schnitt unter 25% (bei sommergrünen Eichen) mit Tiefstwerten von 7% für die Winterlinde. Die einheimische Birke (47%) und der exotische Götterbaum (83%) werden nachweislich weniger vom Wild angegangen, während die Robinie am Endtrieb ähnlich häufig verbissen wird wie der Kirschbaum und die Eiche.

Noch deutlicher sichtbar werden die Auswirkungen des Wildhuftiereinflusses in Abbildung 2 beim direkten Vergleich zwischen den Stichproben inner- und ausserhalb der eingezäunten Flächen. Wie in den rechten Spalten der einzelnen Grafiken zu sehen ist, gibt es ausserhalb der Zäune abgesehen von einigen Götterbäumen und Robinien nur sehr wenige Exemplare von einheimischen Arten, die es geschafft haben, eine Höhe von 1.3 m zu überschreiten und einen BHD von mehr als 2 cm zu erreichen. Es sind meistens durch Brombeere oder andere Vegetation vom Wild geschützte Sonderfälle. Einige einheimische Arten wie Esche und Kastanie überleben sechs und mehr Verbissjahre, sind jedoch nicht in der Lage, eine normale Schaft- und Kronenentwicklung zu vollziehen und dem Äser zu entwachsen (leere rote Balken in der linken Spalte der Grafiken). Andere wie Kirsche, Eichen, Winterlinde und Birke neigen dazu, nach ein paar Jahren abzusterben, während die empfindlicheren Arten wie Ahorn und Ulme bereits im Keimlingsalter vollständig ausfallen. Im Schutz der Zäune haben hingegen viele einheimischen Baumarten die Brusthöhe erreicht bzw. überschritten (rechte Spalten).

Diskussion

Historisch und klimatisch bedingt sind die insubrischen Wälder des Kastaniengürtels hinsichtlich der Artenzusammensetzung und der aktuellen Bestandsstruktur und -stabilität in einem sehr kritischen Zustand (Conedera et al 2023). Der Aufbau von zukunftsfähigen, naturnahen Waldstrukturen wird nicht nur durch die einseitige Baumartenzusammensetzung der Kastanienwälder erschwert, sondern er wird durch den Neophytendruck und den sehr hohen Wildeinfluss teilweise nahezu verunmöglicht (Cioldi et al 2021). Unter diesen Umständen sind das Verständnis für und das Monitoring dieser hemmenden Faktoren für die Waldverjüngung besonders dringlich, um die forstpolitischen und waldbaulichen Entscheidungen zu deren Reduktion zielführend und rechtzeitig treffen zu können.

Unsere Ergebnisse zeigen eindeutig, dass in Gebieten mit sehr hohem Wilddruck die traditionellen und in der Schweiz heute am meisten benutzen Methoden zur Erfassung des Wildeinflusses, wie der Anteil von Bäumen mit Endtriebverbiss (z.B. Kupferschmid & Abegg 2025) oder die gutachtliche Einschätzung des Wildeinflusses (z.B. Kupferschmid & Frei 2025), nur ein beschränktes und teilweise verzerrtes Bild des Problems vermitteln. Entscheidende Aspekte wie der Totverbiss im Keimlings- und Sämlingsalter (Kupferschmid et al 2019) und die weitgehende Entmischung in der Jungwuchsphase aufgrund wildbedingter Verschiebungen in den Konkurrenzverhältnissen werden übersehen bzw. unterschätzt. Unser Fallbeispiel zeigt eindeutig, wie durch den Wildverbiss sowohl häufige (F. excelsior, Quercus spp., Acer spp., Tilia cordata) als auch seltene, aber waldbaulich sehr wertvolle Baumarten wie die Ulmen (Ulmus spp.) und der Kirschbaum (Prunus avium) kaum Chancen haben, sich zu etablieren. Die wildbedingt spärliche und baumartenarme Waldverjüngung verändert die Konkurrenzverhältnisse zugunsten der sehr aggressiven invasiven Neophyten (z.B. Götterbaum). Die interspezifische Konkurrenz, die durch eine ungestörte Verjüngung heimischer Baumarten entsteht, kann zudem die Invasivität von Neophyten wie dem Götterbaum (zum Teil auch der Robinie) stark hemmen, was ein wichtiger Aspekt für die Zukunft der Wälder im insubrischen Gürtel darstellt (Conedera et al 2023).

Aus methodischer Sicht und trotz suboptimalem Untersuchungsdesign zeigen unsere Daten deutlich den Mehrwert des Vergleichsflächenpaaransatzes (eingezäunt/nicht eingezäunt), einer bisher in der Schweiz nur wenig ausgewerteten und teilweise auch kritisch diskutierten Methode (Rüegg 2005). Zusätzlich zum Totverbiss verdeutlicht dieser Ansatz auch die Veränderung der Konkurrenzverhältnisse in der Waldverjüngung, eine bisher kaum erfasste und oft unterschätzte Auswirkung des Wildeinflusses.

Neben der von Kupferschmid & Frei (2025) empfohlenen Harmonisierung und Vereinheitlichung der kantonalen Erhebungsmethoden schlagen wir vor, ein nationales Vergleichsflächenpaarnetz zur wissenschaftlich fundierten Beurteilung des Wildeinflusses auf die Waldverjüngung voranzutreiben. Im Tessin hat die Planung und Einrichtung eines solchen Netzes mit Zäunen von mindestens 20 × 20 m bereits im Rahmen der Zusammenarbeit von BAFU, kantonalem Forstdienst und WSL begonnen.

Literatur

  • Abegg M, Allgaier Leuch B, Kupferschmid AD (2021)

    Wildverbiss: wichtige Baumarten unter Druck. Wald und Holz 102 (9): 20–22.

  • Bebi P, Allgaier Leuch B, Bugmann H, Conedera M, Insinna P et al (2023)

    Wildhuftiere und Waldverjüngung: Wenn die Zeit davonläuft. Schweiz Z Forstwes 174 (5): 274–279.https://doi.org/10.3188/szf.2023.0274

  • Conedera M, Pezzatti G B, Krebs P, Gehring E (2023)

    Herausforderungen im Umgang mit Waldstörungen auf der Alpensüdseite. In: Bebi P, Schweier J (eds.) Aus Störungen und Extremereignissen im Wald lernen. WSL Berichte 144. pp 11–16. doi:https://doi.org/10.55419/wsl:35222

  • Kupferschmid AD, Frei E (2025)

    Einfluss des Verbisses auf die Baumverjüngung in der Schweiz: Überblick basierend auf kantonalen Daten. Schweiz Z Forstwes 176 (3): 146–157.https://doi.org/10.3188/szf.2025.146

  • Kupferschmid A D, Brang P, BugmannH (2019)

    Abschätzung des Einflusses von Verbiss durch wildlebende Huftiere auf die Baumverjüngung. Schweiz Z Forstwes 170 (3): 125–134.https://doi.org/10.3188/szf.2019.0125

  • Rüegg D (2005)

    Achtung bei der Anwendung von Kontrollzäunen. Wald und Holz 86 (5): 33–35

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